Forschung

Raum und Bildung

Rekonstruktion erziehungswissenschaftlicher Raumvorstellungen im Horizont von Digitalität

Während der Pandemie mussten wir uns alle – von der Grund- bis zur Hochschule – mit einer neuen Art von Raum auseinandersetzen. Mit dem, was wir als Distance Learning bezeichnet haben, betrat Bildung einen digitalen Raum, der für viele kein Neuland war. Trotzdem bleibt der Raumbegriff in den Erziehungswissenschaften höchst ambivalent. Das Projekt hat sich zum Ziel gesetzt, einen erziehungswissenschaftlichen Raumbegriff im Horizont von Digitalität zu konturieren.

In einer Universität haben wir Räume, in denen Seminare, Vorlesungen, Vorträge und allerlei Diskussionen stattfinden. Die Weise, wie der Raum gestaltet ist – durch Tische, Stühle und deren Ausrichtung – sagt uns etwas darüber, wie wir uns darin verhalten können oder auch sollen. Der Raum gibt Sicherheit. Beamer und andere digitale Technologien reichern diesen Raum an. Smartphone, Tablet und Laptop sind als Second Screen der Weg in andere Räume. Das ist nicht selten mit Unsicherheiten verbunden.

Die Unihalle ist ganz anders, es ist Raum für mehr Dinge. Es ist der Zwischenraum, in dem alles netzwerkartig zusammenläuft – um dann wieder auseinanderzugehen. Wie auf einem Schulhof geht es hier etwas lockerer, spontaner vor sich. Der Raum wird durchschritten, der Ort des Geschehens ist – hier in Bielefeld – so gestaltet, damit die Interdisziplinarität aufgenommen werden kann. Anders als in den Seminarräumen hält die Studierenden hier nichts in den Stuhlreihen fest. Allerlei Plakate, Banner und auch Bildschirme reichern auch hier den Raum an und strukturieren ihn gleichsam wie er strukturiert werden kann.

Während der Pandemie mussten wir uns alle – von der Grund- bis zur Hochschule – mit einer neuen Art von Raum auseinandersetzen. Mit dem, was wir als Distance Learning bezeichnet haben, betrat Bildung einen digitalen Raum, der für viele kein Neuland war. Man hat sich schon mit den digitalen Lehr-Lern-Settings beschäftigt, mit OER, mit Mediendidaktik und der Bedeutung von Algorithmen. Denn wie Felix Stalder sagt, sind wir angehalten […] neue Handlungsabläufe, aber auch neue Wahrnehmungsformen und neue Denkstrukturen zu entwickeln.“ Stalder 2021, S. 4). Die Pandemie hat aber – zumindest für das Bildungssystem – einige Unsicherheiten offengelegt. Was darf ich? Was kann ich? Ist das überhaupt Diskurs? Lernt man dann richtig und wofür brauchen wir dann eigentlich noch die Schule oder die Uni vor Ort? Vorher bekannte, materielle Grenzen sind verschwommen, sie werden entgrenzt. Man ist weit von den Schüler*innen und Studierenden entfernt aber irgendwie doch näher als vorher. Aufkommende Unsicherheiten sind sicherlich in ganz vielen, unterschiedlichen Dingen begründet – technische Ausstattung, Medienkompetenz, Skepsis, Ablehnung oder zu große Euphorie.

Was in der Pandemiezeit in Bildungseinrichtungen geschehen ist, wurde durch einige Studien und Befragungen untersucht – zum Beispiel vom Hochschulforum Digitalisierung – und wurde sowohl öffentlich als auch in der Fachcommunity diskutiert.

Was mir auffällt: häufig wird zwar der Raum – war auch immer das sein mag – adressiert. Die Erziehungswissenschaft spricht ja auch traditionell häufig vom oder über den Raum. Vom Sozialraum, Bildungsraum, dem Raum als dritten Pädagogen und dem Menschen als Raumwesen. Es scheint fast so, dass man immer, wenn man sich nicht ganz sicher ist, wie man Dinge beschreiben kann, sie als Raum bezeichnet. Auch in Begriffen wie dem Distance Learning oder dem Home Office oder eben der Präsenzuni ist implizit der Raum mitgedacht. So ist die Beschäftigung mit dem Raum zwar zentral, der Begriff an sich wird aber höchst ambivalent genutzt. Fabian Kessl (2016) spricht daher von einer „Raumblindheit“, Martin Nugel (2017) sieht zumindest eine „Raumvergessenheit“ innerhalb der Erziehungswissenschaft.

In jedem Fall scheinen wir es mit einer Orientierungslosigkeit zu tun haben: Um die Orientierung von Lehrenden und Lernenden in gemeinsamen Bildungskontexten. Einige Unsicherheiten bezogen auf diese Orientierung werden durch materielle Raumstrukturen aufgefangen. Für die Lehre im digitalen Raum scheint es, dass die Unsicherheiten, die in der Pandemie in Bezug auf die Lehre an Hochschulen, aber auch anderen Bildungsinstitutionen offengelegt wurden, viel damit zu tun haben, dass wir gar nicht genau wissen, in welchem Raum wir uns da befinden, wie dieser Raum strukturiert ist, wie wir ihn strukturieren können und was das für unser Verständnis von Bildung und Lehre bedeutet.

Es geht im Projekt um die Suche nach einer Beschreibung der Architektur digitaler Räume aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive, die Rekonstruktion von Raumvorstellungen im Horizont von Digitalisierung und machtheoretische Bezüge und Irritationen im Zwischenraum materieller und digitaler Raumstrukturen. Für die Medienpädagogik in Theorie und Praxis geht es ja auch um die Frage, wie man diesem digitalen Raum – immer noch als dritter Pädagoge wahrgenommen – begegnen kann um sich den damit verbundenen Unsicherheiten zu stellen.

Hier verwendete Literatur

  • Kessl, F. (2016). Erziehungswissenschaftliche Forschung zu Raum und Räumlichkeit. In M. Caruso, K. Falkenberg, K. S. Cortina, R. Reichenbach, & R. Tippelt (Hrsg.), Zeitschrift für Pädagogik (Bd. 1, S. 5–19). Bad Langensalza: Beltz Verlag. https://doi.org/10.25656/01:16702
  • Nugel, M. (2017). Die Erziehungswissenschaft als Raumwissenschaft. In C. Thompson, R. Casale, & N. Ricken (Hrsg.), Die Sache(n) der Bildung (S. 263–278). Gehalten auf der „Die Sache(n) der Bildung“, Paderborn: Ferdinand Schöningh. https://doi.org/10.30965/9783657785940
  • Stalder, F. (2021). Was ist Digitalität? In U. Hauck-Thum & J. Noller (Hrsg.), Was ist Digitalität? (S. 3–7). Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-62989-5_1