Forschung

Reproduktion von Märchenstoffen im Film

Die Funktionen märchenhafter Erzählungen sind von jeher Unterhaltung und Erziehung (Ashliman 2004). Heute werden Märchen vor allem audio-visuell erzählt. Moderne Filmmärchen interpretieren die alten Stoffe neu und erschließen sich auch ein vermeintlich neues Publikum: Jugendliche und junge Erwachsene.

Märchen sind als Erzählgattung seit jeher Teil des pädagogischen Diskurses. Zentrale Aspekte der Diskussion sind dabei die Adressierung und Attraktivität der Märchen (u.a. Scherf 1960, Doderer 1970, Ewers 2016, Degh 1979, Bühler 1918/1961, Jones 2002, Stone 1981, Bettelheim 2009) und der damit verbundene Umgang mit Grausamkeit in Märchen (u. a. Bottigheimer 1986, Zipes 1997, Greenhill & Matrix 2010, Trousdale 1989). Zielgruppe pädagogischer Überlegungen sind dabei meist Kinder. Auch in Bezug auf den Märchenfilm dreht sich die Diskussion, historisch erwachsen, vor allem um kindliche Rezipient:innen (u. a. Heidtmann 2000, Heinke & Rabe 2011, Greune 1998, Wellershoff 2011).

Den modernen Märchenfilm als Phänomen zu definieren erweist sich derweil aufgrund seiner vielfältigen Ausprägungen und der Vermischung von Elementen verschiedenster Filmgenres als schwierig (Liptay 2004, McCallum & Stephens 2015, Zipes 2016, Stiglegger 2017). Seit Ende der 1990er Jahre finden sich vermehrt US-amerikanische Filme in den Kinos, die europäische Märchenstoffe aufgreifen und über ihre Titel explizit auf diese verweisen. Trotzdem handelt es sich nicht um Märchenfilme im engeren Sinne. Diese moderne Filmmärchen greifen die ursprünglichen Märchenstoffe in unterschiedlicher Intensität als Grundlage auf. Die dem Märchen als Qualitätsmerkmal zugeschriebene Oralität, spiegelt sich im Filmmärchen in dessen breitem Spektrum an unterschiedlichen Adaptionen wider. Abänderungen der Inhalte, von der Handlung über die Figuren bis hin zur Vermittlung von Normen und Werten, der Anschluss an popkulturelle Phänomene sowie intertextuelle Referenzen erneuern die Märchenstoffe auf unterschiedliche Weise, halten sie aktuell und eröffnen Ihnen zudem neue Zielgruppen.

Dies geschieht vor allem über die Ausgestaltung der Protagonist:innen als Identität stiftende Figuren. Filme dienen im Kontext der Identitätsarbeit als Modellieferanten. Globale Medienkulturen, wie das Hollywoodkino, bieten Individuen Ausblicke auf bisher unbekannte Identitätskonstrukte (Weber 2015; Peltzer 2011). Die Filmcharaktere regen über ihr Sein, ihr Handeln und ihre Entwicklung im Verlauf der Filmhandlung zur Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst und der Vorstellung eines zukünftigen Ichs an. In den Analysen zeigt sich, dass die untersuchten Filme Themen behandeln, die in der Jugendphase von Relevanz sind. Sie tun dies unabhängig davon, ob die Handlung in einem diffus mittelalterlichen Setting oder als Transformation in moderner Zeit spielt. Die Protagonist:innen stellen Identitätskonzepte zur Diskussion, die sich sowohl aus den Motiven und moralischen Botschaften der Märchenstoffe nähren, als auch an die zeitgenössischen Identitätsangebote des Hollywood-Kinos anschließen. Aus dem lange als „Kinderfilm“ (Greune 1998) betitelten Märchenfilm ist in den letzten 20 Jahren in den US-Umsetzungen unter anderem ein Filmmärchen geworden, das sich an Jugendliche und junge Erwachsene richtet.

Die Dissertation geht auf Basis von sechs Filmanalysen den Fragen nach, wie US-amerikanische Realverfilmungen die klassischen Märchenstoffe Aschenputtel und Schneewittchen aufgreifen und abwandeln, auf welche Art und Weise sie Jugendliche als vermeintlich neue Zielgruppe ansprechen, welche Anknüpfungspunkte die Filme für sie bieten und was die Filme auf inhaltlicher Ebene über die Ausgestaltung der Protagonist:innen vermitteln.

Das Dissertationsprojekt wird von Prof. Dr. Uwe Sander betreut.

Hier verwendete Literatur

  • Ashliman, D. L. (2011). Folk and Fairy Tales. Westport: Greenwood.
  • Bettelheim, B. (2009). Kinder brauchen Märchen. München: Dt. Taschenbuch-Verl. (Original erschienen 1977).
  • Bottigheimer, R. B. (1986). Silenced Women in the Grimms‘ Tales: The „Fit“ Between Fairy Tales and Society in Their Historical Context. In R. B. Bottigheimer (Ed.), Fairy tales and society. Illusion, allusion, and paradigm (S. 115132). Philadelphia: University of Pennsylvania Press.
  • Bühler, C. (1918/1961). Das Märchen und die Phantasie des Kindes. In C. Bühler, J. Bilz & H. Hetzler (Hrsg.), Das Märchen und die Phantasie des Kindes (S. 1772). München: Johann Ambrosius Barth.
  • Dégh, L. (1979). Grimm’s Household Tales, and its place in the household: The social relevance of a controversial classic. Western Folklore, 38(2), 83103.
  • Doderer, K. (1970). Klassische Kinder- und Jugendbücher. Kritische. Weinheim: Beltz.
    Ewers, H.
    H. (2016). Seit wann brauchen Kinder Märchen? Zur Entstehung und zur Erfolgsgeschichte eines romantischen Mythos. TeleVizion, 29(1), 49.
    Greenhill, P. & Matrix, S. E. (2010). Envisioning Ambiguity. Fariy Tale Films. In P. Greenhill & S. E.
  • Matrix (Hrsg.), Fairy Tale Films (S. 122). Utah State University Press.
    Greune, R. (1998). Der Märchenfilm. Zeitlose Verzauberung. In H. Schäfer (Hrsg.),
    Lexikon des Kinder- und Jugendfilms im Kino, im Fernsehen und auf Video (Teil 6, S. 1). Meitingen: Corian-Verl. Wimmer.
  • Heidtmann, H. (2000). Wilhelm, Jacob und Simsala Grimm: Medienadaptionen von Volksmärchen.
  • Heinke, S. & Rabe, B. (2011). Frau Holles Gesichter. Entwicklungslinien des deutschen Märchenfilms. In K. Franz (Hrsg.), Faszinierende Märchenwelt. Das Märchen in Illustration, Theater und Film (S. 226248). Baltmannsweiler: Schneider VerlagHohengehren.
  • Jones, S. S. (2002). The fairy tale. The magic mirror of imagination. New York: Routledge (Original erschienen 1995).
  • Liptay, F. (2004). WunderWelten. Märchen im Film. Remscheid: Gardez!
    McCallum, R. & Stephens, J. (2015). Film and fairy tales. In J. Zipes (Ed.),
    The Oxford companion to fairy tales (S. 193199). Oxford: Oxford University Press.
    Peltzer, A. (2011).
    Identität und Spektakel. Der Hollywood-Blockbuster als global erfolgreicher
  • Identitätsanbieter. Konstanz: UVK.
    Scherf, W. (1960). Was bedeutet dem Kind die Grausamkeit des Volksmärchens?
    Jugendliteratur(11), 496514.
  • Stiglegger, M. (2017). Märchenfilm und Filmmärchen. Der beschwerliche Weg zum Happyend. In U. Dettmar, C. M. Pecher & R. Schlesinger (Hrsg.), Märchen im Medienwechsel. Zur Geschichte und Gegenwart des Märchenfilms (S. 111). Stuttgart: J.B. Metzler Verlag.
  • Stone, K. (1981). Märchen to Fairy Tale: An Unmagical Transformation. Western Folklore, 40(3), 232.
  • Trousdale, A. (1989). Who’s Afraid of The Big, Bad Wolf? Children’s Literature in Education, 20(2), 69– 79.
  • Weber, M. (2015). Der soziale Rezipient. Medienrezeption als gemeinschaftliche Identitätsarbeit in Freundeskreisen Jugendlicher. Wiesbaden: Springer VS.
  • Wellershoff, I. (2011). Märchenfilme im ZDF: Ein Einblick in die Werkstatt. In K. Franz (Hrsg.), Faszinierende Märchenwelt. Das Märchen in Illustration, Theater und Film (S. 249–257). Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.
  • Zipes, J. (1997). Happily ever after. Fairy tales, children, and the culture industry. New York: Routledge.
  • Zipes, J. (2016). Beyond Disney in the Twenty-First Century. Changing Aspects of Fairy-Tale Films in the American Film Industry. In J. Zipes, P. Greenhill & K. Magnus-Johnston (Eds.), Fairy-tale films beyond Disney. International perspectives (S. 278–293). New York: Routledge Taylor & Francis Group.

Weiterführende Links

Publikationen

  • Sonnenschein, N., Herde, K., & Kamin, A.-M. (2019). Medienpädagogische Arbeit in der Forensischen Psychiatrie: Inklusion in einem exklusiven Feld fördern. Medienimpulse, 57(2). https://doi.org/10.21243/mi-02-19-01.
  • van Bebber-Beeg, K., & Herde, K. (2017). Brettspiele – ein aktuelles medienpädagogisches Forschungsfeld?!. Merz medien + erziehung. Zeitschrift für Medienpädagogik, 61(1), 60-67.

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